Anna, 42, Mutter von zwei Kindern, Führungskraft. Sie vergisst Termine, schiebt Aufgaben ewig vor sich her, fühlt sich reizüberflutet – und fragt sich heimlich, warum alle anderen das Leben besser hinkriegen. Die Antwort bekommt sie erst mit Mitte 40: ADHS. Und sie ist nicht allein. ADHS bei Frauen wird oft übersehen – und noch öfter missverstanden.
Sich nicht konzentrieren können. Unpünktlich sein. Chaos im Kopf. Ständig zu viel – und gleichzeitig nie genug. Viele Frauen glauben, sie seien einfach schlecht organisiert oder nicht belastbar.

„Ich dachte immer, ich bin einfach zu viel.“ Theresa Härter ist Gründerin einer Unternehmensberatung für gender-specific-health – und selbst von ADHS betroffen. Lange hat sie sich selbst nicht verstanden. Heute hilft sie anderen dabei, genau das zu tun: sich zu verstehen. Sie spricht mit Belle&Yell darüber, wie sich ADHS bei Frauen zeigt, warum viele erst in ihren 30igern, während der Mutterschaft oder noch später, in den Wechseljahren eine Diagnose bekommen – und weshalb ADHS kein Makel, sondern einfach ein anderes Betriebssystem ist.

Kein Kinderding und kein Männerproblem

ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung. Bekannt ist es vor allem durch das Bild vom „Zappelphilipp“, der  Junge, der nicht stillsitzen kann. Theresa lacht – denn genau so war sie nicht. „Ich war nicht hibbelig – das kam erst in der Pubertät – aber sehr redselig, unkonzentriert, extrem schnell abgelenkt und verträumt. Man hätte es also bemerken können. Aber ich war und bin eben kein „Philip“ sondern eine Theresa. Mein Geschlecht war das Problem.“

Bei Frauen stehen oft andere Symptome im Vordergrund. Sie träumen, schweifen ab, wirken still – und werden deshalb nicht erkannt. „ADHS bei Frauen richtet sich oft nach innen“, erklärt Theresa. „Das Chaos spielt sich im Kopf ab. Aber es ist real – und enorm anstrengend.“

Viele ADHS-Betroffene leiden zusätzlich unter Depressionen, Angststörungen, Essstörungen oder Burnout. Das erschwert nicht nur die Diagnose, sondern auch die Behandlung.

Zwischen Hormonchaos und Diagnose-Schock

Theresa bemerkte bereits als Kind und insbesondere in der Pubertät, dass sie anders tickte. Als junge Erwachsene dann die erste stressbedingte Krise, durch einen völlig überladenen Terminkalender aus Vollzeitjob, Doppelstudium, privaten Herausforderungen und diversen weiteren Projekten. Auf einer Hochzeit tanzen? Langweilig. Ein typisches Verhaltensmuster von ADHS – zu viele Projekte auf einmal starten und alle Bälle in der Luft halten wollen.
Im Psychologiestudium stieß sie während der Vorlesung auf das Krankheitsbild. Doch 2015 waren Vorurteile und gesellschaftliches Stigma noch zu groß – sie schob den Gedanken selbst betroffen zu sein, schnell wieder beiseite. Als Führungskraft dann der nächste Beinahe-Zusammenbruch.: „Ich stand erneut durchgängig auf Vollgas, war emotional überfordert, fühlte mich innerlich zerrissen – und keiner hat’s gemerkt. Weil ich so gut im Maskieren war.“ Erst als sie sich selbst erneut durch Literatur, Social Media und die eigenen Symptome forschte, wurde klar: Das ist ADHS. Und: Es ist nicht eingebildet. „ADHS ist neurobiologisch messbar. Es geht um Dopamin und Noradrenalin –das bei uns an den richtigen Stellen nicht immer ausreichend zur Verfügung steht.“

Besonders herausfordernd: Bei Frauen schwanken die Symptome durch den Zyklus. Und bspw. in den Wechseljahren kommt oft alles geballt. „Wenn das Östrogen fällt, sinkt oft auch der Dopaminspiegel – und plötzlich spürst du Symptome so stark wie nie.“

Vom Moment der Befreiung bis hin zu Superkräften

„Wenn du 30 Jahre denkst, du bist einfach nicht richtig im Kopf – und dann sagt dir jemand: Du funktionierst nur anders – das verändert alles.“ Theresa beschreibt diesen Moment als Gamechanger. Für sich selbst, aber auch für viele Frauen, die nach einem Vortrag auf sie zukommen. „Mein Credo: Du bist nicht kaputt. Du hast einfach ein anderes Betriebssystem. Und das kann unfassbar viel – wenn du es verstehst.“

ADHS ist nicht nur anstrengend – es kann auch eine Stärke sein. Theresa nennt es „eine kreative Explosion“. Viele Ideen, schnelle Assoziationen, hohe Energie. „Viele Unternehmerinnen und auch Leistungssportlerinnen haben ADHS. Wir denken vernetzt, handeln schnell – aber wir brauchen Struktur, um das zu nutzen.“ Diese Struktur kann aus Routinen, Tools, Coaching, Therapie oder auch Medikamenten bestehen. Wichtig sei: alles individuell abzuwägen und nicht zu verallgemeinern. ADHS ist kein Superkraft-Versprechen – aber es ist eine andere Art zu denken und zu fühlen, mit vielen Potenzialen.

Wenn der Stift schief auf dem Tisch liegt

„In großen Krisen sind wir super“, sagt Theresa. „Da funktioniert unser System, weil das Dopaminlevel i. d. R. dann ebenfalls steigt. Aber wehe, die Technik spinnt oder der Stift liegt schief – dann können wir schon mal ausrasten“. Diese Ambivalenz beschreibt sie mit einem Augenzwinkern – und viel Verständnis für sich selbst. „Unser Gehirn ist entweder schnell über- oder unterstimuliert – ein Dazwischen ist selten und das macht es so anstrengend“.

Spazieren gehen, schlafen, Sport – das sind klassische Coping-Strategien, sprich: Bewältigungsstrategien, um mit der inneren Unruhe umzugehen. Coping heißt: einen Werkzeugkasten zu haben, aus dem man flexibel wählen kann. „Viele ADHSler*innen suchen nach Ruhe im Kopf – und flüchten sich dann in Serien oder Essen. Das kann kurzfristig helfen, langfristig aber belasten.“ Deshalb rät Theresa zu einer Mischung: Struktur ja, aber ohne starre Routinen. „Wir brauchen Abwechslung – auch beim Stressabbau.“

Schluss mit dem Gefühl „Ich bin falsch“

Theresas wichtigste Botschaft: ADHS ist keine Schande. Es ist einfach eine andere Art zu denken. Und wer lernt, damit umzugehen, kann Großes schaffen. „Ich habe ein Unternehmen gegründet. Ich bin nicht perfekt – aber ich bin kraftvoll. Ich habe eine Wand mit meinen Erfolgen. Die hängt da nicht zum Angeben, sondern weil ich sonst vergesse, was ich alles kann.“

Und wenn das Umfeld mal wieder nur Chaos sieht? „Dann denk dran: Du siehst deine Superkräfte. Und das reicht.“

Hinweis zur Diagnose

Wichtig: Auch wenn sich viele Frauen auf Social Media wiedererkennen – eine fundierte ADHS-Diagnose kann nur durch qualifizierte Fachpersonen erfolgen. Dazu gehören ausführliche Gespräche, Anamnesen seit der Kindheit und der Ausschluss anderer Ursachen. ADHS ist nicht einfach ein TikTok-Phänomen, sondern eine komplexe neurobiologische Reizverarbeitung.

ADHS bei Frauen – Das solltest du wissen

📌 Was ist ADHS überhaupt?
ADHS steht für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung – eine neurobiologische Besonderheit, bei der Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin nicht richtig reguliert werden.

📌 Warum wird ADHS bei Frauen so oft übersehen?
Weil es sich oft anders zeigt als bei Jungen: Weniger körperlich hibbelig, mehr „verträumt“, still, innerlich unruhig. Viele maskieren die Symptome über Jahre.

📌 Typische Symptome (werden oftmals erst im Erwachsenenalter zum Problem):
Chaos im Kopf, Konzentrationsprobleme, Impulsivität, emotionale Überforderung, Stimmungsschwankungen, Perfektionismus, Selbstzweifel, Überwältigung trotz Kompetenz.

📌 Einfluss der Hormone:
ADHS-Symptome können sich durch Zyklus, Schwangerschaft oder Wechseljahre verstärken. Östrogenschwankungen beeinflussen die Verfügbarkeit von Dopamin.

📌 Was hilft?
Therapie, Coaching, Bewegung, Routinen, Ernährung, Mikronährstoffe – und wenn nötig auch Medikation. Wichtig: individuell und mit Fachbegleitung.

Checkliste: KÖNNTE ich ADHS haben?

🔄 Fühlst du dich oft innerlich rastlos oder ständig „überflutet“ von Gedanken?

📅 Hast du Probleme, Dinge zu organisieren oder Termine im Blick zu behalten?

🎯 Verlierst du leicht den Fokus – auch bei wichtigen Aufgaben?

🧩 Hast du viele Ideen, aber Schwierigkeiten, sie umzusetzen?

🚪 Reagierst du manchmal über bei Kleinigkeiten – z. B. wenn etwas nicht funktioniert?

💬 Wurdest du als Kind als „zu lebhaft“ oder „verträumt“ beschrieben?

💥 Fühlst du dich im Alltag schnell überfordert, obwohl du eigentlich alles im Griff hast?

🧠 Hast du das Gefühl, dass andere „leichter“ durchs Leben kommen als du?

Wenn du mehrere Fragen mit Ja beantworten kannst – vor allem in Kombination mit Symptomen, die dich belasten – ist es sinnvoll, das Thema mit einer Fachperson (Psychiater:in oder psychologische:r Psychotherapeut:in mit ADHS-Erfahrung) zu besprechen.

Über Theresa Härter

Theresa Härter ist Wirtschaftspsychologin und Gründerin von WORK BODY MIND, eine Unternehmensberatung für Corporate Mental Health und gender-spezifisches neuroinklusives Gesundheitsmanagement. Als Trainerin, Speakerin und psychologischen Beraterin, liegen Ihre Schwerpunkte dabei in der Sensibilisierung & Aufklärung von Frauengesundheit, Neurodivergenz und Mental Health, sowie der Etablierung inklusiver Gesundheitsstrukturen in Unternehmen. Sie ist im deutschsprachigen Raum aktiv und setzt sich dafür ein, dass ADHS, Mental Health & Frauengesundheit endlich aus der Tabu- und Schubladenecke geholt wird.

Regula Bathelt

Regula ist Mitgründerin und CEO von Belle&Yell. Als internationale Marketing- und Branding-Expertin hat sie zahlreiche Marken betreut und mit Unternehmen wie AUDI und der Deutschen Telekom zusammengearbeitet. Mit über 30 Jahren unternehmerischer Erfahrung in TV, Werbung und Digital Business verbindet sie Kreativität mit strategischem Weitblick. Sie war als Wirtschaftsjournalistin und TV-Produzentin für Sender wie ZDF, RTL und Pro7 tätig, bis sie 1997 die Kommunikationsagentur SMACK Communications mitgründete. Bis heute unterstützt SMACK innovative und dynamische Unternehmen bei der erfolgreichen Vermarktung ihrer Produkte und Dienstleistungen. Regula ist überzeugte Europäerin, Wasser ist ihr Element und sie liebt Lesen, Schreiben, Sport und Hunde.

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