Pornos, Sex-Toys, Dating-Apps – Sex scheint heute überall verfügbar sein. Unsere Gesellschaft wird als übersexualisiert wahrgenommen, gleichzeitig ist die private Sexualität komplizierter geworden. Die eigene Sexualität ist häufig immer noch ein Thema, das als intim, privat oder gar tabuisiert gilt. Und wenn wir genauer hinsehen, ist sie weit mehr: Sex ist politisch. Hochpolitisch, möchte ich betonen.
Im Laufe der Geschichte wurde Sexualität nicht selten als Mittel des Widerstands eingesetzt – man denke nur an Sexstreiks, die Frauen nutzten, um ihre Forderungen durchzusetzen. Doch manchmal sind es keine äußeren Kämpfe, sondern innere Prozesse, die diese politische Dimension spürbar machen.
2019 war ein solches Jahr für mich. Es war das Jahr, in dem ich mir selbst einen „Sexstreik“ auferlegte – nicht aus Protest gegen politische Zustände, sondern aus dem Bedürfnis heraus, meine Sexualität neu zu betrachten. Ein wenig Kontext: Ich bin cis-geschlechtlich, heterosexuell, lebe in Paris und war lange Zeit in festen Beziehungen. Doch in jenem Jahr, als ich mich auf die Schwelle meiner 40er zubewegte, begann eine Phase des Zölibats, die zugleich Erkundung und Reflexion bedeutete.

Die Schockwelle von MeToo: Eine intime Rückeroberung
Ein Jahr nach der MeToo-Bewegung rückte Feminismus in einen Bereich vor, der mindestens genauso politisch ist wie die öffentliche Sphäre: in unsere Schlafzimmer. Es war eine Art Rückeroberung – nicht nur von Körpern, sondern auch von der Souveränität darüber, was mit ihnen geschieht. Dieser Moment löste eine Schockwelle aus, die mich dazu brachte, mein Verhältnis zu meinem Körper, meiner Sexualität und Sexualität im Allgemeinen zu hinterfragen.
Der Auslöser dafür war eine Begegnung, die so harmlos begann wie sie ernüchternd endete: Ein Mann, den ich seit Wochen kannte, war in meinem Bett. Erwartet hatte ich Zärtlichkeit und Sinnlichkeit – bekommen habe ich das Gegenteil: mechanischen, vorhersehbaren, von einem monotonen Rhythmus bestimmten „Rammel-Sex“.

Die Entdeckung des kulturellen Drehbuchs
Diese Erfahrung ließ mich erkennen, wie sehr unsere Sexualität durch gesellschaftliche Konditionierungen geprägt ist. Das Drehbuch ist dabei fast immer dasselbe: Vorspiel – Penetration – Höhepunkt – Ende. Diese Routine wurde nicht nur durch kulturelle Normen, sondern auch durch die Pornoindustrie globalisiert.
Doch ist das alles? Können wir Sexualität nicht neu denken? Die Mechanik dieser „Sex-Routine“ langweilte mich, und ich war überzeugt, dass ich nicht die Einzige war.
Die 4D-Bewegung: Eine radikale Umdeutung
In den letzten Jahren ist ein neuer Trend entstanden, der eine noch radikalere Abkehr vom herkömmlichen Drehbuch darstellt: die sogenannte 4D-Bewegung. Sie steht für „Do not date, do not desire, do not depend, do not do“ – also für eine bewusste Entscheidung, sich vollständig von romantischen und sexuellen Beziehungen zu entkoppeln.
Frauen, die sich dieser Bewegung anschließen, entscheiden sich aktiv dafür, ihre Energie und Zeit nicht in sexuelle oder partnerschaftliche Dynamiken zu investieren. Stattdessen richten sie den Fokus auf ihre persönliche Entwicklung, ihre Karriere oder andere Bereiche, die sie als erfüllender empfinden.
Die 4D-Bewegung stellt dabei eine Form des radikalen Empowerments dar: Sie widersetzt sich nicht nur den patriarchalen Erwartungen, sondern auch der Leistungsgesellschaft, die selbst Sexualität oft in einem Kontext von Erfolg und Optimierung betrachtet. Für viele Frauen bedeutet dieser Weg eine Befreiung von Zwängen und eine Rückbesinnung auf die eigene Autonomie.
Eine sanfte Rebellion
Inspiriert von dieser Entwicklung begann auch ich, meine eigene sanfte Rebellion gegen sexuelle Normen zu führen. Sanft, weil sie nicht radikal war, sondern spielerisch. Sanft, weil sie sich auf die sinnlichen Aspekte konzentrierte – Berührungen, Zeit, und das Entdecken neuer Möglichkeiten. Ich ließ mich vom Konzept des Slow Sex inspirieren: nicht mehr auf den Orgasmus fixiert sein, keinen Druck, eine Performance abzuliefern, sondern das Erleben in den Vordergrund stellen. Es ging darum, Sex ohne Ziel zu haben, sich nicht von einem Drehbuch lenken zu lassen, sondern spontan und bewusst mit dem Moment zu sein. Eine wesentliche Veränderung war, das Vorspiel neu zu definieren – nicht mehr als eine Pflichtübung, die einer bestimmten Sequenz folgt, sondern als etwas, das zu jedem Zeitpunkt stattfinden kann.

Körper, Geist und Seele: Eine nicht-dualistische Perspektive
Im Kern dieser Rebellion steht eine Haltung, die sich von der Trennung von Körper und Geist löst. Wir lieben nicht nur mit unseren Körpern, sondern mit allem, was wir sind. Das erfordert ein Umdenken, ein Abweichen vom hegemonialen Drehbuch und die Bereitschaft, Sexualität als Ausdruck der gesamten Persönlichkeit zu sehen. Ob wir uns nun dem Slow Sex verschreiben, uns einer radikalen Bewegung wie 4D anschließen oder einfach unser eigenes Drehbuch schreiben – eines steht fest: Es ist Zeit, das Politische im Privaten zu erkennen und mehr von uns selbst in diese intimste Sphäre einzubringen. Sexualität muss nicht dem Diktat der Effizienz oder der Konformität folgen. Sie darf Raum für Entfaltung, Veränderung und sogar Rebellion sein – gegen das, was war, und für das, was wir sein wollen.
Lassen wir uns darauf ein: mit uns selbst, mit unseren Partner*innen und mit einer Sexualität, die mehr ist als nur eine Performance. Denn letztlich ist es nicht nur eine private, sondern auch eine zutiefst politische Entscheidung.

Charlotte Quantin
Charlotte ist Mitgründerin von Belle&Yell und Director Frankreich. Mit einem fundierten Hintergrund im internationalen Vertrieb hat sie wichtige Positionen als Verkaufsleiterin und Exportdirektorin bekleidet. Als Executive- und Gesundheitscoach unterstützt sie Einzelpersonen und Organisationen in den Bereichen Führung und Change Management. Leidenschaftlich engagiert für die Stärkung von Frauen, glaubt sie fest an die Kraft des Kollektivs.